Martin Gollmer
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Themen - Schweiz / Europa


23-06-2010 | Für einen zweiten Anlauf zum EWR


Der nach dem Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Jahr 1992 eingeschlagene Weg des Bilateralismus mit der Europäischen Union (EU) stosse an seine Grenzen, gleichzeitig sei ein EU-Beitritt aufgrund der politischen Gegebenheiten eine Illusion. Da könnte ein zweites EWR-Referendum einen Ausweg bieten. Dies schreibt Carl Baudenbacher, Präsident des Efta-Gerichtshofs und Rechtsprofessor an der Universität St.Gallen, in einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 22. Juni 2010.

Baudenbachers Bilanz des Bilateralismus mit der EU ist vernichtend: Ein Abkommen zur für die Schweiz wichtigen Dienstleistungsfreiheit fehle nach 18 Jahren ebenso wie Verträge zur Niederlassungs- und zur Kapitalverkehrsfreiheit. Im Warenverkehr schaffe das einseitig übernommene „Cassis de Dijon“-Prinzip kein Gegenrecht für schweizerische Unternehmen.

Die Mitwirkungsrechte, die die bilateralen Verträge mit der EU böten, blieben sodann unter dem EWR-Niveau. Gleichzeitig sei die Behauptung, der Bilateralismus schone die Souveränität der Schweiz, nicht haltbar. Denn beim Freizügigkeitsabkommen, beim Luftverkehrsabkommen sowie bei den Abkommen von Schengen und Dublin gebe es dynamische Elemente, die die automatische Übernahme von EU-Recht durch die Schweiz bewirkten.

Einen handfesten Nachteil stelle weiter das Fehlen eines institutionellen Überbaus dar. Die in den bilateralen Abkommen vorgesehenen diplomatischen Konfliktlösungsmechanismen seien ungenügend. Sie enthielten zu viele politische Elemente und schüfen zu wenig Rechtssicherheit. Auf diese seien aber die schweizerischen Finanzmarktakteure und Exportunternehmen angewiesen.

Schliesslich vermöge der den Bilateralismus flankierende autonome Nachvollzug von EU-Recht nicht zu befriedigen. Die EU-Gesetzgebung werde nicht selten verspätet und verzerrt übernommen. Zudem gebe es keine Garantie europakompatibler Auslegung durch die schweizerischen Gerichte, denen das Vorlagerecht an den Europäischen Gerichtshof oder an den Efta-Gerichtshof fehle. Nachvollzug bedeute überdies Souveränitätsverlust.

Soweit Baudenbachers Bilanz des Bilateralismus. Nun macht der Jurist aber auch mehrere Anzeichen aus, dass die Möglichkeiten des bilateralen Wegs erschöpft seien. Erstens verlange der EU-Ministerrat in einem Papier vom Dezember 2008 nicht nur die Dynamisierung künftiger bilateraler Verträge, sondern auch der bestehenden. Zweitens fordere ein aktueller Vorstoss im Europäischen Parlament die EU-Kommission und die Schweiz auf, horizontale Lösungen für bestimmte institutionelle Fragen zu suchen.

Drittens habe der Europäische Gerichthof unlängst in einem Urteil sehr kritische Worte zum schweizerischen Bilateralismus gefunden. Und früher oder später werde schliesslich viertens die EU-Kommission die Schweiz daran erinnern, dass der bilaterale Weg lediglich als Interimslösung gedacht war.

Aus all diesen Gründen müsse der Bundesrat, so Baudenbacher, seine Europapolitik neu definieren. Einen EU-Beitritt anzustreben, wäre angesichts der innenpolitischen Gegebenheiten allerdings eine Illusion. Machbar wäre hingegen ein zweiter Anlauf zu einem EWR-Beitritt. Im Vergleich zu 1992 gebe es dabei heute zwei Vorteile: Die Schweiz habe die Grenzen des Bilateralismus erfahren, gleichzeitig funktioniere das EWR-Abkommen seit über 16 Jahren praktisch reibungslos.

Als EWR-Staat wäre die Schweiz in der Efta-Überwachungsbehörde und im Efta-Gerichtshof vertreten. Aufgrund ihrer Einwohnerzahl, ihrer Wirtschaftskraft, ihrer Lage im Herzen Europas und ihrer Viersprachigkeit könnte sie im Efta-Pfeiler eine Führungsrolle beanspruchen. „Alles in allem ist es vorteilhafter, in einem aus vier Staaten bestehenden Efta-Pfeiler die erste Geige zu spielen, denn als Solist aufzutreten“, schliesst Baudenbacher seinen Artikel.



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