Martin Gollmer
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Themen - Schweiz / Europa


18-08-2010 | Direkte Demokratie ist mit Einschränkungen europakompatibel


Die direkte Demokratie müsste bei einem weitergehenden Arrangement der Schweiz mit der Europäischen Union (EU) nicht aufgegeben, aber teilweise eingeschränkt werden. Der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum hätte dabei weniger gravierende Auswirkungen als ein Vollbeitritt zur EU. Das zeigt eine Untersuchung von Rechtsprofessor Thomas Cottier von der Universität Bern.

Für die „SonntagsZeitung“ hat Professor Thomas Cottier vom Institut für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht der Universität Bern untersucht, welche Auswirkungen eine Mitgliedschaft der Schweiz im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beziehungsweise in de Europäischen Union auf durchgeführte Volksabstimmungen im Zeitraum 1992 bis 2010 gehabt hätte. 1992 lehnt die schweizerische Bevölkerung den EWR-Beitritt in einer Volksabstimmung knapp ab. Der EWR ist der gemeinsame Binnenmarkt der EU mit der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta). Der Efta gehören neben der Schweiz noch Norwegen, Island und Liechtenstein an. Nach dem Nein zum EWR-Beitritt legte der Bundesrat ein zuvor bereits eingereichtes Gesuch zum Vollbeitritt zur EU auf Eis. Seither regelt die Schweiz ihre Beziehungen zur EU mit sektoriellen bilateralen Verträgen.

Seit der EWR-Abstimmung im Dezember 1992 hat das Schweizer Volk über 164 nationale Vorlagen abgestimmt. Wäre die Schweiz Ende 1992 dem EWR beigetreten wäre eine Abstimmung – über die Bilateralen I – obsolet gewesen. Von den verbleibenden 163 Vorlagen hätten sich gemäss Cottier bei zehn Vorlagen (6,1%) Probleme ergeben. Sechs der zehn Konfliktfälle betreffen EWR-inkompatible Initiativen, die das Volk abgelehnt hat. Zwei der zehn Konfliktfälle betreffen EWR-inkompatible Initiativen, die das Volk angenommen hat.

Die zwei Abstimmungen über die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die zehn neuen EU-Länder und über die Bestätigung der Personenfreizügigkeit mit der EU sowie deren Ausdehnung auf Rumänien und Bulgarien hätten in dieser Form nicht vorgelegt werden können, sondern allenfalls als Gesetzesreferendum gegen die Umsetzung einschlägiger Richtlinien im Bundesrecht oder als Staatsvertragsreferendum gegen die Anpassung des EWR-Vertrags an die EU-Erweiterungen. Die Ablehnung der Vorlagen durch die Schweiz allein hätte zur Aussetzung des EWR-Vertrags führen können.

Bei weiteren Abstimmungen, die vermutlich EWR-kompatibel eingeschätzt worden wären (z.B. Schwerverkehrsabgabe) können nachträgliche Schwierigkeiten in der Umsetzung durch Anfechtung vor dem EWR-Gerichtshof nicht ausgeschlossen werden.

Wäre die Schweiz Ende 1992 Mitglied der EU gewesen, wären drei der 164 eidgenössischen Vorlagen obsolet geworden. Bei den 161 verbleibenden Vorlagen hätten sich in 24 Fällen (14,9%) Probleme ergeben. Elf der 24 Konfliktfälle betreffen EU-inkompatible Initiativen und Gegenvorschläge, die das Volk abgelehnt hat. Drei der 24 Konfliktfälle betreffen EU-inkompatible Initiativen und Gegenvorschläge, die das Volk angenommen hat.

Zehn der 24 Konfliktfälle betreffen Gesetzesvorlagen, die dem Volk in dieser Weise nicht hätten vorgelegt werden können, weil sie mit übergeordnetem EU-Recht nicht vereinbar sind. Drei dieser Vorlagen hat das Volk abgelehnt, sieben hat es angenommen.

Umgekehrt hätt das Schweizer Volk die Möglichkeit gehabt, über die EU-Vertragsänderungen von Amsterdam, Nizza und Lissabon, die Verfassung Europas und die EU-Erweiterungen (und damit indirekt über die Erweiterung der Personenfreizügigkeit) abzustimmen und bei einem negativen Entscheid den europäischen Integrationsprozess zu verhindern bzw. zu verzögern.



Untersuchung von Professor Cottier